Full House

 

 

Über das Helfen, die eigenen Grenzen überwinden und einfach etwas Gutes tun.

Als wir vom Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine hörten, wollten wir (wir, das sind: mein Mann, meine Tochter, mein Sohn und ich), gerne helfen. Unser Wunsch war es, einer ukrainischen Familie die Möglichkeit geben, eine geschützte und sichere Unterkunft zu haben. Wir registrierten uns also bei diversen Organisationen, leider erfolglos. Am Ende entstand der Kontakt zu der Familie über einen Mitarbeiter meines Mannes. Wir erhielten in unserem Urlaub den Anruf mit der Bitte, die Familie bei uns aufzunehmen. Es handelte sich um Bekannte des Mitarbeiters.

Nun wurde es für uns aber ernst. Und zugegebenermaßen: Es fühlte sich doch erst einmal komisch an. Wie würde es wohl werden, mit sechs fremden Personen im gleichen Haus? Wie würde ihr Gemütszustand sein? Wie traumatisiert sind sie und was haben sie erlebt? Diese Gedanken erst einmal beiseitegeschoben, fingen wir an, unseren Keller für die Familie gemütlich und wohnlich einzurichten. Dort sollten sie jederzeit ihren Rückzugsort haben und sich dennoch nicht abgeschoben fühlen. Vor ihrer Anreise kannte ich bereits ihre Namen und bekam die Passinformationen per „whatsapp“ übermittelt.

So konnte ich mich schon vorab um Termine für ihre Registrierung bei der Ausländerbehörde, ihre Anmeldung beim Einwohnermeldeamt, um die Anträge bei der Sozialbehörde und bei der Schulbehörde kümmern. Das erleichterte ihnen den Start hier vor Ort ungemein.

Am 20.03.2022 um 22:30 Uhr reisten sie dann an.

Tetiana, Olena, Iryna, sind mit ihren drei Kindern und ihrem Hund aus Korosten geflüchtet. Korosten liegt 150 km westlich von Kiew und hat 63.000 Einwohner. Also eine ganz normale Kleinstadt. Sie kamen zu sechst mit ihrem kleinen Hund in einem Auto, das eigentlich für fünf Personen gedacht ist. Die Anreise von ca. 1.500 km war sehr beschwerlich und für die Frauen mit ihren Kindern emotional unfassbar anstrengend.
Ihre Ehemänner hatten sie zur Grenze gefahren und mussten dann in ihren Wohnort zurückkehren – ein Abschied auf ungewisse Zeit. Ihre Männer leisten keinen Wehrdienst, aber humanitäre Hilfe, indem sie Frauen und Kinder sicher an die Grenzen bringen.

Die Tischlerei von Olenas Mann vor dem Angriff

Nacht für Nacht sind die Frauen wach und machen sich Gedanken. Manche Nächte sind länger, manche Nächte kürzer – je nachdem wie aktiv Russland gegen die Ukraine vorgeht. Am nächsten Morgen sitzen sie dann gerädert am Frühstückstisch und versuchen sich möglichst wenig anmerken zu lassen.

Die Kinder gehen hier mittlerweile zur Schule, zwei der drei Frauen haben einen Minijob und alle sind sehr bemüht Deutsch zu lernen. Wir kochen zusammen, spielen, gehen Einkaufen und verbringen wertvolle Zeit miteinander. Wir schmunzeln über die Unterschiede der einzelnen Kulturen und stellen fest, dass die Bürokratie der Deutschen bis weit über unsere Landesgrenzen bekannt ist. Die erforderliche fünfstündige Wartezeit bei der Ausländerbehörde, wurde mit dem Worten „Deutsche Bürokratie“ weggelächelt.
Wir haben erfahren, dass es in der Ukraine keinen Steuerberater gibt… wenn man Steuern sparen möchte, muss man selbst „clever“ sein! Butterbrot heißt übersetzt Butterbrot, und bei allen anderen Gesprächen und Kommentaren, die wir nicht verstehen, hilft uns „Google Translator“.

Die Tischlerei von Olenas Mann NACH dem Angriff

Was wir aber sehr gut verstehen, ist der Umstand, dass die Frauen sehr, sehr dankbar und gerührt sind über unsere Aufnahme in unserem Haus, über so viel Anteilnahme, Hilfsbereitschaft und Solidarität, die ihnen und ihren ukrainischen Mitmenschen entgegengebracht wird. Über die Möglichkeiten, die sie hier erhalten und den Frieden, der hier herrscht. Sie und ihre Kinder sind hier sicher und das ist alles, was zunächst einmal zählt. Ich kann nur alle LeserInnen dazu ermutigen, bei freier Kapazität, einer Familie ein sicheres Dach über dem Kopf zu geben. Die Ängste und Sorgen, die wir vorher hatten, sind nicht eingetreten.
Unsere Gäste sind zu unseren Freunden geworden und wir dankbar dafür, dass wir ihnen einen geschützten Ort bieten können, der ihnen Kraft gibt, die Erlebnisse in ihrer Heimat ein kleines Bisschen zu verarbeiten.

Sonja Nöding für den Kreisverband Alstertal-Walddörfer

Olenas Mann auf dem Rückweg von der Grenze
mit Hilfsgütern im Lieferwagen.

Fotocredit: privat

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